von Max Weinhold © Süddeutsche Zeitung
NÜRNBERG – Bevor der Scheich durch die Tür tritt, bleibt er stehen, die Füße eng nebeneinander, und hält eine Sekunde lang inne. Süleyman Bahn hat gerade seine blaue Funktionsjacke aus- und enganliegende Glattlederschuhe angezogen, die aussehen wie die eines Harlekins, jetzt hebt er den rechten Fuß zu einem langen Schritt über die Schwelle. Er bleibt erneut stehen, verneigt sich, ein kurzes Schweigen, ein Moment der Selbstwerdung, orientalische CD-Musik vermischt sich mit den Klängen des Wasserkochers.
Der Scheich trägt eine schwarze Anzughose und ein weißes Leinenhemd, und genau genommen heißt er gar nicht Süleyman, sondern Wolf. Diesen Namen gaben ihm jedenfalls seine Eltern. 80 Jahre ist das her, so alt ist Bahn, und auch sonst hat sich bei ihm, wenn man so will, viel getan.
Bahn wuchs in Innsbruck auf, streng katholisch, aber als er älter wurde, in München an der Kunstakademie studierte und die 68er-Bewegung in Gang kam, da hatte er den Katholizismus schon längst „infrage gestellt“, wie er sagt. Bahn sitzt auf einer dunkelgrün-samtigen Matratze am Ende des länglichen Raumes, den er eben betreten hat, die Knie angewinkelt, den Blick fest auf dem Boden. „Aber außer Infragestellung war da nichts.“
Für Indien reichte das Geld nicht. Also: Türkei
Und so begann seine Suche. Nach sich selbst. Nach Gott. Bahn ist fündig geworden, 1973, in der Türkei, der Sufismus, die mystische, spirituelle Strömung des Islam. Eigentlich habe er nach Indien gewollt, dafür habe das Geld aber nicht gereicht, also sei er nach Konya gefahren. Dort, so habe ihm ein Freund versichert, komme man dem Orient so nah wie nur irgend möglich. Und dort sollten, so hatte Bahn gehört, Derwische leben. „Ich hatte keine Ahnung, was ein Derwisch ist“, sagt er, „aber was Wildes habe ich mir vorgestellt.“
Er traf dann tatsächlich einen Derwisch, nicht wild, eher einflussreich: Süleyman Hayati Dede, Scheich von Konya und in der zentralanatolischen Stadt geistiges Oberhaupt der Mevlevi, einem sufistischen Orden. Bahn ging bei seinem späteren Namensgeber in die Lehre, wurde dessen Stellvertreter in Deutschland, selbst Scheich und erhielt den Auftrag, die Botschaft des islamischen Lyrikers, Mystikers und Gelehrten Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī in hiesige Lande zu tragen. Auf Rūmī geht zurück, was die Mevlevi bis heute praktizieren und wofür sie am bekanntesten sind: ihr Ritual, der Derwischtanz Sema.
Wobei es den Mevlevi nicht gerecht werde, sie nur auf den Drehtanz zu reduzieren, findet Ayşe Geçer, 48. Seit 17 Jahren ist sie Mitglied des Vereins Mevlana, den Bahn, damals noch Innenarchitekt, 1991 in Nürnberg gegründet hat und der bis heute deutschlandweit der einzige offizielle Mevlevi-Ableger ist.
Der Weg dahin, sagt Geçer, eine Chemieingenieurin, sei schwierig und umfasse viel mehr als den Tanz, auch wenn sich am Ende die meisten nur damit beschäftigten, weil er nun mal so ästhetisch sei – die wallenden weißen Kleider, Menschen, die sich um sich selbst und ihre Mitmenschen drehen, alles in Bewegung, manchmal sogar in Ekstase.
Der Tanz, sagt sie, sei wie ein Training für das normale Leben, „sich nicht verdrängen zu lassen, wenn einem jemand zu nahe kommt, seinen Platz zu finden, anderen aber auch ihren Platz zu gewähren“. Für sie sei der Sema „wie ein Spiegel“, sagt Hülya Friebe, 49, seit zehn Jahren dabei. Und in diesen Spiegel zu sehen, „kann wehtun“.
Teil der Gemeinschaft sind eine Kinderärztin, ein Informatiker, ein Betriebsratsvorsitzender.
Nach und nach treffen die Mitglieder ein, bedächtig, leise streifen sie ihre Lederschuhe über, treten über die Schwelle, verneigen sich. „Servus, Salam“, sagt ein jüngerer Mann. Ein anderer bringt Tee in den kleinen, geschwungenen Gläsern, wie sie üblich sind in der Türkei.
Elf Menschen sitzen jetzt im Kreis um Süleyman Bahn, im Schneidersitz, auf den Knien, hingefläzt; darunter eine Rentnerin, die früher Sozialarbeiterin war, ein Informatiker, eine Musiktherapeutin, der Betriebsratsvorsitzende eines Telekommunikationsunternehmens, eine Kinderärztin. Zwei Männer tragen zylinderförmige Filzmützen, einer hat tätowierte Arme. Die meisten kommen schon länger her, sechs, sieben, acht Jahre, eine Frau schon 20.
Zuerst spricht der Scheich, er hält einen Schnellhefter in der Hand und wechselt zwischen Deutsch und Arabisch, dann übernimmt Ayşe Geçer. Sie hat sich ein Tuch über den Kopf gelegt und betet erst langsam, wird schneller, bis ihre Worte zu einem Gesang verfließen. Einige Mevlevi schließen ihre Augen und stimmen flüsternd ein. Hülya Friebe beginnt sanft zu trommeln, als Nächstes trägt der Mann mit der Mütze und den Tattoos ein Gebet vor, er wiegt seinen Kopf von links nach rechts, Vers für Vers, Perle für Perle lässt er eine Gebetskette durch seine Hand wandern.
Vor ihm dreht sich ein grauer Miniatur-Derwisch im Kreis, angetrieben von der Wärme eines Teelichts, unentwegt, scheinbar unerschöpflich, was man auch über das Gebet sagen kann, das die Mevlevi jetzt gemeinsam sprechen: „Lā ilāha illā“, es gibt keinen Gott außer Gott, 15 Minuten, 432 Wiederholungen, erst leise, langsam, dann lauter, schneller, alles steigert sich, die Gesichter schmerzverzerrt, berauscht, entrückt, entspannt, lächelnd, die Körper wiegen hin und her, die Flamme zuckt, alles ist in Bewegung, sechs Silben, tiefe Trance.
Eigentlich habe sie „einen christlichen Background“ und vorher „mit dem Islam ganz wenige Berührungspunkte“ gehabt, sogar „eher negative Dinge mit der Religion assoziiert“. Aber dann das: diese Mischung aus Ernsthaftigkeit und Leichtigkeit, sagt sie, „ich war hin und weg“.
Am anderen Ende des Raumes stehen jetzt der Scheich und sechs Mevlevi im Kreis, sie haben sich umgezogen zum Tanz, der rituelle Höhepunkt.
Darum geht es ihnen schließlich: Im Tanz versuchen sie, das eigene Ego kleinzuhalten, zu beerdigen, zu ihrem Kern zu finden, zu dem, was übrig bleibt, wenn sie sich äußerer Einflüsse entledigen.
Zuerst tritt der Mann mit den Tattoos ein, im Arm ein blutrotes Fell, das als Erinnerung an Abraham dient, der im Koran seinen Sohn opfern sollte. Er verneigt sich, legt das Fell ab, schreitet rückwärts hinaus. Herein kommen gemächlich drei Männer und drei Frauen, der Scheich. Es läuft orientalische Musik, die Derwische verbeugen sich vor dem Fell und knien in einer Reihe nieder.
Ihre Hände klatschen auf den Boden, die Derwische erheben sich, legen ihren schwarzen Umhang ab, Gesang setzt ein, sie schlurfen in ihren hautengen Lederschuhen zum Scheich, verbeugen sich, er küsst ihren Hut. Und dann drehen sie sich: einer nach dem anderen, eng beieinander, der linkeFuß auf dem Boden wie die Spitze eines Kreisels, der rechte hebt sich zu einem Schritt gegen den Uhrzeigersinn, langsam. Die Arme liegen noch auf der Brust.
Die Derwische schreiten hinaus, über die Türschwelle, in den Flur, welch eine Hitze, stöhnt Ufuk Kirca, 49, seine Lederschuhe hat er schon ausgezogen. Kirca ist seit sieben Jahren dabei, hat über seinen Mann zum Sufismus und den Mevlevi gefunden. Anfangs habe er das hier als „Spinnerei“ betrachtet, später aber festgestellt, dass er an diesem Ort „sehr individuell Moslem“ sein könne.
Wobei die Mitglieder nicht einmal muslimisch sein müssen. Bei allem, was sie hier begeistere, sagt etwa Margareta Schiller-Kleemann, sei sie „trotzdem keine Muslima“. Mitglied werden, sagt Scheich Bahn, könne jeder – solange er nur glaubhaft darlege, „dass er auf der Suche ist und nicht nur neugierig.“
Auch nach Geschlechtern trennten sie hier, wie es eigentlich üblich sei, nicht. Weil ja auch die Gesamtgesellschaft in Deutschland „gemischt“ sei, wie Bahn
sagt. Ob denn auch eine Frau als Scheich denkbar wäre? Eine „viel diskutierte Frage“ sei das, aber bisher die Ausnahme.
Ufuk Kirca jedenfalls findet, das alles hier sei ziemlich demokratisch, manchmal könne der Scheich sogar ein wenig autoritärer sein, entscheidungsfreudiger.
Er wirkt abgekämpft nach dem Tanz. Ob er es geschafft habe loszulassen? Diesmal nicht, sagt Kirca, „man kommt nicht immer in diesen Zustand. Manchmal dreht man sich auch einfach nur im Kreis“.
www.mevlana-ev.de
Internationale-Mevlânâ-Stiftung Deutschland Mevlânâ Verein e.V.
Peyerstr.30/Rgb.
90429 Nürnberg
Kontaktperson: Süleyman W. Bahn
Mobil + 49 (0)176 – 9790 7469
E-Mail: info@mevlana-ev.de
Peyerstrasse 30
90429 Nürnberg
Jeden Freitag um 19:15
U1 in Richtung Fürth. Haltestelle Maximilianstraße aussteigen. In Fahrtrichtung rechts der Maximilianstraße folgen. Dritte Querstrasse links ist die Peyerstraße. Dort Hausnummer 30, im Rückgebäude.